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Die 36 Strategeme - Was hat alte chinesische Kriegskunst mit Innovation zu tun?

  • Autorenbild: Dr. Babette Sonntag
    Dr. Babette Sonntag
  • 7. Apr.
  • 7 Min. Lesezeit

Aktualisiert: 8. Apr.


Szene aus einer Peking-Oper


Heute geht es nicht um Impulse aus dem japanischen Universum, sondern um einen strategischen Schatz Made in China.

Strategeme waren mir als alte chinesische Weisheiten bekannt, als ich während meiner Arbeit im Rahmen eines deutsch-chinesischen M&A-Projektes immer wieder darauf gestoßen wurde. Zuerst war es nur ein Gefühl, dass mir bestimmte Verhaltensweisen oder Reaktionen unserer chinesischen Partner irgendwie bekannt vorkamen. Dann aber habe ich eindeutige Parallelen zu den chinesischen Strategemen erkannt. Von Täuschungsmanövern über Beziehungsaufbau - wer die 36 Strategeme kennt, ist meiner Meinung nach gut darauf vorbereitet, in Verhandlungen jeder Art, nicht nur mit chinesischen Geschäftspartnern, auf Augenhöhe zu bleiben. Und was hat alte chinesische Kriegskunst mit Innovation zu tun?



Was sind die 36 Strategeme und wofür wurden sie "erfunden"?


chinesische Terrakotta-Krieger
Die Strategeme haben sich von ihrem militärischen Ursprung entfernt

Die chinesischen 36 Strategeme sind eine der faszinierendsten Sammlungen strategischer Weisheiten, die über Jahrhunderte hinweg in China entstanden sind. Sie reichen von einfachen Täuschungsmanövern bis hin zu komplexen Schachzügen, die Politik, Wirtschaft und Militär beeinflusst haben.

Ihre Ursprünge reichen bis in die Zeit der Streitenden Reiche (475–221 v. Chr.) zurück und wurden erstmals in einem anonymen Text aus der Zeit der Südlichen und Nördlichen Dynastien (420–589 n. Chr.) systematisch beschrieben. Die Sammlung basiert auf noch älteren Weisheiten aus dem „Sunzi – Die Kunst des Krieges“ und anderen strategischen Schriften. Auf der Basis daoistischer und konfuzianischer Prinzipien beschreiben sie das geschickte Manövrieren in komplexen Situationen in Kriegsführung, oder Politik.


Die Strategeme sind mehr als bloße Listensammlung – sie sind in der chinesischen Kultur verankert und spiegeln ein strategisches Denken wider, das auf Flexibilität, Anpassungsfähigkeit und langfristigem Erfolg basiert. Ihre Anwendung geht weit über militärische Zwecke hinaus und beeinflusst bis heute wirtschaftliche und geschäftliche Entscheidungen in China.


Jedes der 36 Strategeme beschreibt eine clevere Methode, um sich in einer Konfliktsituation einen Vorteil zu verschaffen – sei es durch List, Täuschung, taktisches Rückziehen oder das gezielte Formen von Allianzen.


Ein auch bei uns bekanntes Beispiel ist das Strategem Nr. 6: „Im Osten lärmen, im Westen angreifen“ – ein Prinzip, das beschreibt, wie man den Gegner durch eine Ablenkung in die Irre führt, während man an einer anderen Stelle zuschlägt. In der modernen Geschäftswelt kann das bedeuten, den Markt mit einer scheinbar nebensächlichen Produktverbesserung zu täuschen, während man heimlich an einer revolutionären Technologie arbeitet. Auf Verhandlungen übertragen kann der Verhandlungspartner mit einer größeren Forderung überrascht und zu Zugeständnissen gebracht werden, nachdem vorher zu einem anderen, scheinbar wichtigen Thema Kompromisse oder Abweisungen stattgefunden haben.



Bedeutung der Strategeme für den Geschäftserfolg im Allgemeinen



Manager reichen sich die Hand
Strategisches Agieren erhöht den Geschäftserfolg

In China ist strategisches Handeln aus westlicher Sicht nicht immer geradlinig, sondern verläuft auf indirekten Wegen und vermeintlichen Umwegen. Das erscheint uns manchmal kompliziert oder unverständlich. Wer mit chinesischen Unternehmen verhandelt oder auf dem chinesischen Markt Fuß fassen will, sollte verstehen, dass Flexibilität, Täuschungskunst und langfristige Planung wesentliche Bestandteile der Geschäftskultur sind. Dass ein tieferes Verständnis der chinesischen Strategeme insbesondere für das Geschäft mit chinesischen Partnern äußerst hilfreich sein kann, liegt auf der Hand.

Aber auch in unserer westlichen Welt des Daily Business müssen wir täglich Kompromisse aushandeln und neue Wege finden, um an unser Projektziel zu gelangen. Daher halte ich das Wissen über die Strategeme auch bei uns für einen wirksamen Erfolgsfaktor.


Strategeme sind als Gleichnisse formuliert, die es gilt, in das reale Leben zu übersetzen. Hier übertrage ich vier Beispiele in den "normalen" Alltag. Bitte beachte, dass verschiedene Übersetzungen aus dem Chinesischen teilweise etwas voneinander abweichen. Die Grundbedeutung der Nummern ist jedoch immer gleich


Strategem 6: "Im Osten Lärm machen, im Westen angreifen" – bedeutet: gezielte Ablenkungsmanöver durchführen, um das Gegenüber mit dem eigentlichen Sachverhalt zu überraschen. Kann in Verhandlungen angewendet werden, um in entscheidenden Fragen Zustimmung zu bekommen.

Strategem 19 "Die Trittsteine aus dem Fluss stehlen" (oder auch "Das Brennholz heimlich unter dem Kessel wegnehmen)" – bedeutet: entscheidende Ressourcen, Informationen oder Positionen sichern, bevor die Konkurrenz darauf zugreifen kann. Kann zum Überzeugen von Entscheidern mit wichtigen Informationen bei Projekt-Staffing oder Investpitches genutzt werden.

Strategem Nr. 25: „Den Balken zerbrechen und die Stützen stehlen“ (oder auch "Die Balken stehlen und gegen morsche Stützen austauschen) - bedeutet: Ein Geschäftspartner könnte bewusst (bei ihm weniger wichtigen Themen) eine Schwäche zeigen, nur um später die Verhandlungsmacht zurückzugewinnen.

Strategem 13: "Auf das Gras schlagen, um die Schlange aufzuscheuchen" – bedeutet: Wettbewerber durch geschickte Marktbewegungen, Projektentscheidungen oder Kommunikation dazu bringen, ihre wahren Absichten zu offenbaren. So können mit provokanter Kommunikation versteckte Gegner aufgedeckt oder durch Simulationen Gefahren erkannt werden.


Business, egal wo, wird strategisch geführt. Obwohl westliche Unternehmen oft auf Transparenz und schnelle Abschlüsse setzen, sind Kompromisse - egal ob im Großen oder im Kleinen - oft ein langfristiges, wiederkehrendes Spiel. Das Beharren auf einem vorgegebenen Weg zum Ziel ist dabei kontraproduktiv. Besonders Start-ups oder Technologiegiganten wie Alibaba oder Huawei nutzen flexible Strategien, um sich Vorteile zu verschaffen. Die Fähigkeit, Situationen zu Gunsten des Projekt- oder Geschäftserfolgs auszunutzen und sich an neue Situationen anzupassen, ist essenziell.



Hilfreiche Strategeme für Innovationsmanagement im Speziellen



Robotics Innovation Team
Impulse für ein besseres Innovationsmanagement

Für das Innovationsmanagement können die 36 Strategeme eine Quelle der Inspiration darstellen. Neue Ideen auszuarbeiten und zu positionieren (im eigenen Fachbereich, im eignen Unternehmen, in einem Investorpitch,...) erfordert die Fähigkeit zu überraschen, flexibel und schlagfertig zu reagieren und einen Informations- und Knowhow-Vorsprung aufzubauen. Innovationen entstehen nicht nur durch Kreativität, sondern auch durch geschicktes strategisches Vorgehen. Besonders in Unternehmen, die sich in einem stark umkämpften Markt bewegen oder disruptive Technologien entwickeln, kann das entscheidend sein.


Hier nenne ich vier weitere Beispiele, die sich aus meiner Sicht hervorragend als Impulse für schlagkräftiges Innovationsmanagement eignen (beachte, dass es auch hier wieder leicht abweichend Übersetzungen geben kann):


Strategem Nr. 1: „Den Himmel täuschen, um das Meer zu überqueren“


Bedeutung: Der Ausdruck zu seiner Zeit bedeutete konkret, Truppen über das Meer zu führen, währen der Gegner glaubt, sie wären an Land. Übertragen auf das heutige Innovationsbusiness kann das bedeuten, dass man durch geschickte Produktpositionierung eine Auseinandersetzung auf einem umkämpften Markt vermeidet.

Veränderungen sind oft schwer durchsetzbar, besonders wenn sie als zu radikal wahrgenommen werden. Statt abrupt neue Prozesse oder Produkte einzuführen, kann es klüger sein, den Wandel schrittweise und scheinbar „harmonisch“ einzuleiten, sodass Widerstände minimiert werden.

Beispiel aus der Praxis: Apple führte das iPhone 2007 nicht als revolutionäres Smartphone ein, sondern als eine Mischung aus iPod, Telefon und Internetbrowser. Dieser sanfte Übergang half, den Markt an die Idee eines Multitouch-Smartphones zu gewöhnen, ohne dass bestehende Mobilfunkriesen sofort die Bedrohung erkannten.

Anwendung für Innovationsmanager:

  • Neue Technologien schrittweise einführen, anstatt sie als disruptive Umbrüche zu verkaufen.

  • Interne Veränderungsprozesse in Unternehmen als „Erweiterung“ statt als „Revolution“ betrachten und kommunizieren.

  • Frühzeitige Gegner der Innovation durch sanfte Einführung zu Verbündeten machen.


Strategem Nr. 17: „Einen Ziegel hinwerfen, um Jade zu erhalten“


Bedeutung: Man gibt eine kleine Investition oder Idee preis, um im Gegenzug eine viel wertvollere Reaktion oder Innovation zu erhalten. Dieses Prinzip eignet sich - natürlich ohne die Täuschungsabsicht - besonders für Open Innovation und Co-Creation.

Beispiel aus der Praxis: Google gibt viele seiner Technologien zunächst als Open Source frei (z. B. TensorFlow für KI-Entwicklung). Dadurch gewinnt das Unternehmen eine riesige Entwickler-Community, die freiwillig verbessert, erweitert und neue Anwendungsfälle testet. Google selbst profitiert, ohne alle Entwicklungsarbeiten selbst leisten zu müssen.

Anwendung für Innovationsmanager:

  • Kleine, unvollständige Innovationsansätze veröffentlichen, um Partner und Kunden zur Weiterentwicklung zu animieren (das Prinzip des frühzeitigen Kundenfeedbacks).

  • Open Innovation-Plattformen nutzen, um externes Know-how einzubeziehen.

  • Beta-Versionen gezielt lancieren, um Feedback für die finale Produktentwicklung zu erhalten.


Strategem Nr. 30: „Den Tiger vom Berg in die Ebene locken“


Bedeutung: Ein starker Gegner ist in seiner gewohnten Umgebung schwer zu besiegen – man muss ihn in eine ungewohnte Lage bringen, wo er verwundbar wird. In der Wirtschaft bedeutet das oft, einen etablierten Marktführer oder einen Verhandlungspartner aus seiner Komfortzone zu ziehen.

Beispiel aus der Praxis: Netflix hat die Filmindustrie nicht frontal angegriffen, sondern sich zuerst auf Nischenmärkte konzentriert (z. B. Serienliebhaber und internationale Produktionen), bevor das Unternehmen die klassischen Hollywood-Studios direkt herausforderte.

Anwendung für Innovationsmanager:

  • Disruptive Innovationen zunächst in kleinen Märkten oder Nischen testen.

  • Marktführer aus ihrer Kernkompetenz herauslocken und sie zwingen, auf ungewohntem Terrain zu agieren.

  • Strategische Partnerschaften nutzen, um sich Marktanteile zu sichern, bevor große Konkurrenten reagieren können.


Strategem Nr. 36: „Den Rückzug als Fortschritt verkaufen“


Bedeutung: Wenn eine direkte Konfrontation nicht sinnvoll ist, kann es strategisch klug sein, sich scheinbar zurückzuziehen – nur um später mit einer neuen Handlungsoption gestärkt zurückzukommen. Oder auch: Flucht ist manchmal die beste Wahl.

Beispiel aus der Praxis: Microsoft erkannte, dass Windows Phone gegen Android und iOS keine Chance hatte. Anstatt mit massiven Verlusten weiterzukämpfen, zog sich Microsoft aus dem mobilen Betriebssystemmarkt zurück – investierte aber parallel in Cloud-Technologie und KI. Jahre später kehrte das Unternehmen als Marktführer im Cloud-Sektor zurück und kooperiert nun mit Android.

Anwendung für Innovationsmanager:

  • Wenn eine Innovation scheitert, nicht zwangsläufig mit Gewalt weitermachen, sondern Ressourcen frühzeitig gezielt umleiten. Es ist nie 1:1 die erste Idee, die am Ende zur Marktreife kommt.

  • Märkte, die nicht bereit für eine Innovation sind, vorerst meiden und sich zu einem späteren Zeitpunkt erneut positionieren.

  • Bewusst Fehlschläge als „strategischen Rückzug“ kommunizieren, um interne und externe Unterstützung nicht zu verlieren.



Fazit: Ansätze aus anderen Kulturen können Gamechanger für das Innovationsmanagement sein




Manager mit Glühbirne in der Hand
Ansätze aus anderen Kulturen als Gamechanger

Strategeme eröffnen flexiblere Denkweisen

Viele deutsche Unternehmen setzen auf strukturiertes Innovationsmanagement, geprägt durch klassische Methoden wie Stage-Gate-Prozesse oder Lean Startup. Das Problem? Diese Methoden sind linear und vorhersehbar. Die chinesischen Strategeme hingegen sind nicht dogmatisch. Sie lassen sich auf den modernen Wirtschaftskontext übertragen und anpassen und bieten situative, flexible Lösungen. Sie lehren, dass Innovation oft nicht durch klare Regeln, sondern durch kreative Täuschung, Anpassung und taktisches Handeln entsteht. Es muss ja nicht gleich ein fundamentaler Wandel im Innovationsmanagement stattfinden: Klassische Methoden lassen sich aber hervorragend ergänzen.


Strategeme helfen, Widerstände gegen Innovationen zu überwinden

Einer der größten Bremsklötze für Innovation in Deutschland ist internes Beharrungsvermögen: Viele Mitarbeiter und Manager sind skeptisch gegenüber Neuerungen. Veränderungen werden oft als Bedrohung gesehen, nicht als Chance. Welcher Innovationsmanager kennt das nicht?

Die Strategeme bieten psychologische Hebel, um geschickt mit Widerständen umzugehen und Veränderungen sanfter einzuführen.


Strategeme bieten Perspektivwechsel im Umgang mit Krisen

Generell wird in Krisenzeiten auf Risiko-Minimierung gesetzt. Doch gerade Krisen bieten oft große Innovationsmöglichkeiten – wenn man sie klug nutzt. Statt krampfhaft an einem verlustreichen Geschäftsmodell festzuhalten, kann ein strategischer Rückzug aus einem gesättigten Markt helfen, Ressourcen für neue Innovationen zu bündeln. Strategeme bieten viele Anregungen für Perspektivwechsel bei der Bewertung von scheinbar schlechten Situationen.


Die 36 Strategeme bieten einen neuen Blick auf Innovationsmanagement: weg von starren Stage-Gate-Prozessen, hin zu flexiblen, strategischen Innovationstaktiken und Blickwinkeln, um cleverer, schneller und widerstandsfähiger agieren.

Kurz gesagt:

  • Mehrdimensionale Denkweise statt linearer Innovationsprozesse

  • Cleverer Umgang mit Widerständen

  • Strategischer Einsatz von Konkurrenten und Partnern

  • Krisen als Innovationstreiber nutzen




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